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op-ed
februar 2007

Tausend Worte um ein Bild zu verstehen

 





  Op-ed
von Hans Durrer
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Next Kaum war Saddam Hussein hingerichtet, waren auch schon Bilder seiner letzten Minuten zu sehen: zuerst die zensurierte Fassung, ohne Ton, im staatlichen irakischen Fernsehen, dann die unzensurierte, mit Ton, im Internet.

Als nach Ausstrahlung der Fernsehversion Stimmen laut wurden, die wissen wollten, es sei bei dieser Hinrichtung alles andere als anständig zugegangen — ganz so als ob der Tod durch den Strang anständig sein könnte — meldete sich der nationale irakische Sicherheitsberater und liess verlauten, Saddam Hussein sei vor, während und nach seiner Hinrichtung respektvoll behandelt worden — ganz so als ob jemanden zu hängen und Respekt so recht eigentlich zusammengehörten. Doch dann tauchten die Bilder, die einer der bei der Hinrichtung Anwesenden mit seinem Video-Handy aufgenommen hatte, im Internet auf und straften die Worte des nationalen irakischen Sicherheitsberaters Lügen, denn auf diesem Video war zu hören, wie Saddam Hussein beschimpft und verhöhnt wurde.

  Die Reaktion der politisch Verantwortlichen war vorauszusehen: sie suchten nach demjenigen, der das Video gemacht hatte; die Reaktion der Massenmedien, vertreten durch CNN, war ebenso vorauszusehen: sie interviewten den nationalen irakischen Sicherheitsberater, der, wie ebenfalls vorauszusehen, auf keine der Fragen antwortete, sondern von Versöhnung etcetera schwafelte.
  Sah man sich das Handy-Video im Internet an, war schnell einmal klar, dass es bei dieser Hinrichtung darum gegangen, worum es bei einer Hinrichtung immer geht: um Rache. Anders gesagt: hier konnte man sehen und hören, was Politiker und Massenmedien uns fast immer — es sei denn, es liesse sich propagandistisch ausschlachten — vorenthalten.
Next Die Massenmedien, so wird gemeinhin behauptet, hätten eine "gatekeeper"-Funktion, bestimmten also, was wir zu sehen und zu hören kriegen: unsere gefilterte Mediensicht der Dinge verdanken wir demnach — hoffentlich — verantwortungsbewussten und der Aufklärung verpflichteten Menschen, die in — häufig klimatisierten — Redaktionsstuben auf der ganzen Welt das sogenannte "agenda-setting" betreiben. Mit andern Worten: uns sagen, womit wir uns gefälligst zu befassen hätten. Und die Medienverantwortlichen sind sich einig, was unsere Aufmerksamkeit verdient: auf allen Kanälen werden, weltweit, dieselben Prioritäten gesetzt.
  Vor dem Internet und den Handy-Videos galt für die Massenmedien, was der Schweizer Kabarettist César Kaiser einmal am Beispiel der Polizei illustrierte. Die Polizei sei ein enorm "Gruppen förderndes" Organ: entweder es bildeten sich Gruppen, weil sie auftauche oder sie tauche auf, weil sich Gruppen bildeten. Ähnliches liesse sich für die Medien sagen: sie tauchen auf, weil etwas vorgefallen ist oder es wird etwas inszeniert, weil die Medien auftauchen. Das gilt nach wie vor, doch es gilt heutzutage etwas weniger, weil, Dank der Technik, jeder und jede, hier und jetzt, zum Medienproduzenten werden kann. Mit anderen Worten: die "gatekeeper"-Funktion, und damit die Macht der traditionellen Nachrichten-Produzenten, scheint zunehmend in Auflösung begriffen.
Next Seit es das Internet gibt, können wir sehen, was wir sehen wollen. Also hauptsächlich Pornografie, nach wie vor der Motor des Internets, oder eben die Bilder von Saddams Hinrichtung, die wieder einmal eindrücklich gezeigt haben, wie leicht Bilder ohne Ton zu Propagandazwecken benutzt werden können.
  Ein Foto, um verstanden zu werden, muss im Kontext gesehen werden. Wenn ich nicht weiss, wer Saddam Hussein ist, werden mir die paar verwackelten Videobilder nicht viel sagen. Wer ist der Mann also, was ist der Kontext? Nun ja, der Kontext ist immer konstruiert und abhängig davon, was die Menschen glauben: für seine Anhänger ist Saddam ein anderer als für seine Gegner. Jeder baut sich also seinen eigenen Kontext, ganz nach Belieben? Klar doch, obwohl: es gibt Fakten. Und diese sehen, im Falle von Saddams Hinrichtung, so aus, dass er verhöhnt und beschimpft wurde, als ihm der Strick um den Hals gelegt und er zu Tode gebracht wurde.
Next Pressefotos ohne Bildlegenden können nur schwer verstanden werden und so recht eigentlich ist der Begleittext zum Bild meist wesentlicher als das Bild selbst. Ein Beispiel: ein älterer Mann und eine ältere Frau sitzen sich an einem Tisch in einer Cafeteria gegenüber. Er liest die Zeitung, sie tunkt ein Hörnchen in ihre Kaffeetasse. Die Bildlegende sagt: eheliches Zusammensein nach zwanzig Jahren Verheiratetsein. Manche Verheiratete mögen jetzt denken: Ja, so isses; andere werden sagen: also nein, bei uns ist das überhaupt nicht so; und noch einmal andere werden womöglich einfach grinsen und hoffen, bei ihnen werde es mal nicht so weit kommen. Doch aufgepasst: das Foto zeigt nichts dergleichen, denn ein Foto kann das, was diese Bildlegende suggeriert, gar nicht zeigen. Was unsere Augen wahrnehmen und was der Text zum Bild sagt, dass wir sehen sollen, hat in diesem Fall — und in vielen anderen Fällen — überhaupt nichts miteinander zu tun. Es kann nämlich gut sein, dass der Mann und die Frau gar nicht verheiratet sind, und es kann ebenso gut sein, dass sie gerade bevor (oder nachdem) der Fotograf auf den Auslöser gedrückt hat, miteinander geredet haben. Mit anderen Worten: ein Bild sagt keineswegs mehr als tausend Worte, vielmehr brauchen wir tausend Worte, um überhaupt zu verstehen, was wir eigentlich anschauen — erst dann, wenn wir wissen, was wir vor Augen haben, kann uns ein Bild mehr als tausend Worte sagen.
  Was für Fotos gilt, gilt ebenso für Videos — wir können nur sehen, was wir wissen. Weshalb wir denn auch immer auf die Geschichte zu den Bildern angewiesen sind. Und da es fast nie nur eine Geschichte, sondern meist mehrere — und möglicherweise voneinander abweichende — Geschichten zu einem Bild gibt, ist ein wirkliches Bilder-Verstehen nur möglich, wenn wir angemessen — also über verschiedene Kontexte — informiert sind.
Next Angesichts der Tatsache, dass das digitale Zeitalter, auch die Bildermanipulation, die es schon immer gab, leichter gemacht hat, erstaunt es nicht wenig, wie sehr wir Bildern vertrauen — wir halten Bilder grundsätzlich für wahr, so lange jedenfalls, bis jemand das Gegenteil beweist.
  Doch wie kommt es eigentlich, dass wir Bildern mehr zu trauen scheinen als Worten? Möglicherweise, weil wir Lügen eher mit Worten und nicht so sehr mit Sehen verbinden. "Seeing is Believing" heisst es bekanntlich — auch wenn das Gegenteil oft genauso wahr ist, wir also vielfach sehen, was wir sehen wollen — und meint nicht zuletzt: man kann mir viel erzählen, doch glauben werde ich nur, was ich mit eigenen Augen gesehen habe. Dazu kommt, dass fotografische Evidenz bedeutet, dass das, was sich im Augenblick der Aufnahme dem Kameraauge präsentiert hat, auch so existiert hat. Man kann das Foto von einem Bleistift ganz verschieden interpretieren, je nachdem, welche Bedeutung man dem Bleistift beimisst, ob er in einer Kultur mehr oder weniger verbreitet ist, etcetera, etcetera, doch ein solches Foto wird generell als Beweis akzeptiert, dass dieser Bleistift so zur Zeit der Aufnahme existiert hat.
Next Napalmangriff (Trang Bang, Vietnam, 1972); Aufnahme: Nick Ut

Je mehr die Bilder die Medienwelt dominieren, desto notwendiger wird es, sich mit der Sprache der Bilder beziehungsweise dem Bilder-Lesen auseinanderzusetzen. Das meint: Bilder gehören befragt. So zum Beispiel: Warum hat die kleine Kim Phuc auf dem berühmten Foto von Nick Ut aus dem Vietnamkrieg keine Kleider an? Der Bub neben ihr ist doch angezogen. Und warum rennen die Kinder und die Soldaten hinter ihnen nicht? Was ist überhaupt passiert? Und wo?

  Solche Fragen stellen Kontext her und machen ein Bild erst verständlich, denn es sind die Informationen zum Bild (und nicht das Bild), die unsere Wahrnehmung bestimmen. Im Falle des Fotos von Nick Ut: Ein Flugzeug hatte gerade Napalm abgeworfen und der kleinen Kim Phuc die Kleider versengt. Mit dieser Information beginnen wir zu erahnen, was damals vorgefallen ist. Zudem: wenn wir jetzt noch erfahren, dass es sich um einen Akt von "friendly fire" handelte, "sehen" wir bereits wieder ein anderes Bild. Und mit jeder weiteren Frage wieder ein neues Bild beziehungsweise neue Bilder.
  Und so gilt denn: Damit ein Bild uns mehr als die berühmten tausend Worte sagen kann, brauchen wir zuerst (fast) tausend Worte, die uns erklären, was wir vor Augen haben.
   
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