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volume 10 dezember 2007 |
Fotografisches Sehen |
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von Hans Durrer | ||||||
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Hans Durrer nimmt zwei vor kurzem erschienene Bücher über Fotografie — Julian J. Rossigs Fotojournalismus und Rudolf Stumbergers Klassen-Bilder — zum Anlass, über das Sehen vermittels einer Kamera nachzudenken. | ||||||
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1 | Das Auge des Fotografen. Wie sehen eigentlich Fotografen — Frauen sind mitgemeint — die Welt? Anders als andere Menschen, meint Julian J. Rossig (2007) in seinem Buch Fotojournalismus: "Eine Kamera ist von Grund auf anders konstruiert als das menschliche Auge und muss daher zu anderen Ergebnissen kommen. Beispielsweise hat mein Auge keinen eingebauten Zoom. Ihres vielleicht? Weitwinkel und Teleaufnahmen sind also zwangsläufig schon einmal zur 'Subjektivität' verdammt — weil sie die 'Realität,' was auch immer das sein mag, anders zeigen als unser Auge sie wahrnimmt." Auch "eine Kurzzeitbelichtung von 1/8.000 Sekunde, dass man die Schweisstropfen des Sportlers nur so spritzen sieht" schafft das menschliche Auge nicht; andererseits bildet die Kamera die Welt nur zwei-dimensional ab, auch wenn die Person hinter der Kamera doch alles gerade noch so schön dreidimensional gesehen hat. |
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Mit einer Kamera, so muss man schliessen, kann die Welt nicht objektiv abgebildet werden, doch muss man mit Rossig daraus folgern, dass "sehr überspitzt gesagt," Fotojournalismus "nichts anderes als die Kunst von der gezielten Manipulation des Lesers — in mehr oder weniger starkem Masse" ist? | ||||||
"Allein dadurch, dass wir den Blick des Lesers in eine bestimmte Richtung lenken; allein dadurch, dass wir den Bürgermeister leicht unscharf abbilden; allein dadurch, dass wir den Oppositionskandidaten in einer unvorteilhaften Pose zeigen — durch all diese Massnahmen beeinflussen wir den Leser, egal ob absichtlich oder unbewusst." | ||||||
Einverstanden, doch kommt "den Blick des Lesers in eine bestimmte Richtung lenken" bereits einer Manipulation gleich? Das hängt ganz davon ab, was man unter Manipulation versteht. Ich verstehe darunter eine bewusste Irreführung — und die praktiziert der Fotograf meist nicht. Rossig hingegen meint damit offenbar jede —— absichtliche oder unabsichtliche — Beeinflussung des Bildbetrachters. Das erinnert an den berühmten Satz von Watzlawik, Beavin und Jackson (1974), der da lautet: "One cannot not communicate." Das ist zwar differenziert beobachtet, doch wenn alles Kommunikation ist, wo bleibt da die praktische Relevanz? "Ziel sollte es nun sein, sich diesen Beeinflussungsprozess möglichst bewusst zu machen," schreibt Rossig, denn nur so könne man etwas dagegen tun. "Kein Journalist sollte tendenziöse Fotos herstellen, weder absichtlich noch fahrlässig oder unbewusst!" Das Ausrufezeichen deutet — hoffentlich — darauf hin, dass das nicht so ganz ernst gemeint ist, denn wo soll das Problem sein, wenn das Tendenziöse — sei es, dass es aus der Aufnahme selber hervorgeht, sei es, dass man durch die Bildlegende darauf aufmerksam gemacht wird — des Fotos erkennbar ist? | ||||||
2 | An der Hand genommen. Rossig spricht sich für "eine 'sanfte' Form der Beeinflussung" aus und macht an einem Beispiel deutlich, was er darunter versteht: "So wie der Grossvater im Zoo seinen Enkel bei der Hand nimmt und ihm die wilden Tiere zeigt, so nehmen wir unseren Leser an der Hand und führen ihn durch unser Bild." Rudolf Stumberger (2007) führt in Klassen-Bilder. Sozialdokumentarische Fotografie, 1900-1945 zahlreiche Beispiele auf, wie Fotografen uns an der Hand nehmen. So war dem Berliner Fotografen Friedrich Seidenstücker (1882-1966), der durch die Bilder von Berliner Pfützenspringerinnen — jungen Frauen, die über Wasserlachen auf dem Trottoir sprangen — bekannt wurde, eigen, dass er aus "der Hüfte heraus" fotografierte: "Nie legte ich Wert darauf, dass man mich als Fotograf erkannte. Mir war es immer wichtig, heimlich und unbekannt Aufnahmen zu schiessen." Ganz anders der Ungar Brassaï (1899-1984), der 1924 nach Paris kam und dort vor allem das Nachtleben fotografierte: "Manche versuchen heute auch, ihr Objekt in einem unbewachten Augenblick einzufangen, in der irrtümlichen Annahme, dass sie auf diese Weise etwas besonderes an ihm enthüllen werden. Das läuft schliesslich auf Tricks hinaus. Ich mache es nie so. Ich kann es nicht." Wohl nicht zuletzt der damals fehlenden technischen Möglichkeiten wegen, schliesslich erforderte das Fotografieren in der Nacht spezielles Licht. |
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Bei Klassen-Bilder handelt es sich um eine Habilitationsschrift und zeichnet sich, wie das Habilitationsschriften so an sich haben, durch eine beeindruckende Materialsammlung aus, auch in Bezug auf die Fotograf-Objekt-Beziehungen. Von Walker Evans (1903-1975) erfährt man unter anderem, dass er aus einem begüterten Elternhaus — der Vater war Werbedirektor — stammte, einige Zeit in Paris verbrachte, wo er an der Sorbonne Vorlesungen über Literatur hörte und ursprünglich Schriftsteller werden wollte. Sein Credo war "no politics" und er nahm, so Sturmberger, "den distanzierten Standpunkt des Flaneurs, der aristokratischen Reserviertheit, ein ... Diese Reserviertheit machte sich bereits in seinen Bildern aus Havanna bemerkbar, denen 'eine gewisse Neutralität, eine Art innerer Teilnahmslosigkeit' zugeschrieben wird." Obwohl Evans' Aufnahmen auf mich nie so gewirkt haben — ich sah sie bislang immer so wie William Stott (1986) mich angeleitet hat: "... he records people when they are most themselves, most in command, as they impose their will on the environment" — eröffnen sich mir jetzt, dieser neuen Informationen wegen, ganz neue Sehensweisen — so ich denn dazu bereit bin. Zudem: Je mehr ich über Evans und sein Denken erfahre — "sein Interesse für die urbane und soziale Sphäre war mehr aus ästhetischer Neugierde als aus politischen Motiven heraus entstanden"; "Er fotografierte verlassene Herrschaftsvillen im Süden ebenso wie die Hühnerställe der armen Landpächter und zeigte intensives Interesse an der Welt der Zeichen: Ein Grossteil seiner Fotografien bildet Reklametafeln, Preisschilder, Kinoplakate und Leuchtschriften ab" — desto stärker vermeine ich ihn und seine Sichtweise in seinen Fotos wahrzunehmen. | ||||||
3 | ||||||
Evans hat das Spektakuläre, das Ungehörige vermieden; ihm ging es darum 'die Realität' abzubilden und dabei den Abgebildeten Würde zu geben. "Bud Woods' skin cancer, The Rickettses' "stinking beds," the horde of flies on the tenants' food and on their children's faces — these he does not show, though Bourke-White and Russell Lee showed them" schreibt Stott. Doch was Evans unter Würde verstand und was die Abgebildeten — und ihre Nachkommen, die sich schämten, dass ihre Angehörigen so arm dargestellt wurden — darunter verstanden, hätte unterschiedlicher kaum sein können. | ||||||
Einige Tage nachdem Evans und Agee wieder nach Hause gefahren, schrieb eine der Töchter der Familie Tingle, Flora Bee, an Evans: "I Sure was heart broken to see you leaving down hear I was all ready heart broken but you Broken My Heart worser" (Rathbone, 1995). | ||||||
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Literatur | ||||||
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2007 © Hans Durrer / Soundscapes | ||||||