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volume 10
april 2007

Herr Salgado und Frau Sontag

 





  Ein Essay über das Bilder-Lesen
von Hans Durrer
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  Susan Sontag kann mit den Migrationsfotos von Sebastião Salgado nicht viel anfangen. Ihr Mitgefühl, schreibt sie, komme beim Betrachten "ins Schwimmen" und verflüchtige sich "ins Abstrakte." Salgados Fotos kann man jedoch auch ganz anders lesen, meint Hans Durrer, vorausgesetzt, man sieht genau hin und lässt sich auf sie ein.
 
1 Left: Susan Sontag

Bilder vom Leiden. "Die Migrationsbilder, die Salgado in neununddreissig Ländern aufgenommen hat, fassen unter dieser einen Überschrift eine Vielzahl unterschiedlicher Nöte und deren Ursachen zusammen. Fotos, die das Leiden durch Globalisierung überhöhen, mögen manchen Betrachter anspornen, sich mehr zu "kümmern." Sie können ihn aber auch auf den Gedanken bringen, Elend und Leiden in der Welt seien so verbreitet, so unabänderlich, so dramatisch, dass sich durch gezielte politische Eingriffe an einzelnen Orten nicht viel ändern lässt. Wo ein Thema aus dieser Perspektive betrachtet wird, muss das Mitgefühl ins Schwimmen kommen und sich ins Abstrakte verflüchtigen. Politik und Geschichte sind jedoch immer konkret. (Allerdings wird niemand, der über die Geschichte gründlicher nachdenkt, die Politik noch ganz ernst nehmen können)," schreibt Susan Sontag in ihrem Essay Das Leiden anderer betrachten.

  Man hätte sich Frau Sontag bei diesen Ausführungen etwas weniger allgemein gewünscht, am liebsten so konkret, wie sie das implizit von Herrn Salgado gefordert hat. Doch führt der Gedanke, dass Elend und Leiden in der Welt so verbreitet und unabänderlich sind, wirklich dazu, dass einem dabei "das Mitgefühl ins Schwimmen kommen und sich ins Abstrakte verflüchtigen" muss? Nun ja, wenn man es denn so will. Man kann sich aber auch, anstatt auf der einmal gewählten Perspektive zu beharren, einfach auf die Fotos einlassen: schaut man nämlich lange genug hin — zugegeben, ich spreche von mir — können sich einem Welten auftun und dies ist immer noch einer der besten Gründe, Fotos anzuschauen. Ich staune, wenn ich Sebastião Salgados Fotos anschaue, wundere mich darüber, was meine Augen mir zeigen und ich ihnen zu sehen erlaube. Und je mehr und je länger ich diese Fotos auf mich wirken lasse, desto vertrauter werden mir die abgebildeten Personen, desto anteilnehmender nehme ich sie wahr. Auch weil ich bereit dazu bin, sie so zu sehen, ich sie so sehen will. Verstehen sei ein Gefühl, schreibt Robert Adams in Beauty in photography. Und für dieses muss man sich bereit machen.
2 Das Gewissen von Sebastião Salgado. Lange Zeit mochte ich Sebastião Salgados Fotos nicht, aus ideologischen Gründen. Zu grossartig, zu imposant, zu spektakulär schienen mir seine Aufnahmen. Dazu kam, dass die Menschen, die er porträtierte, namenlose Geschöpfe waren, was mir als Beweis für eine wenig humanistische Sicht der Dinge galt und es war diese humanistische Ausrichtung, die ich während Jahren fast ausschliesslich suchte — im Alltäglichen, im Unauffälligen, im Unspektakulären — und anziehend fand. Dass Salgado dann in einem Interview auch noch sagte, er habe keine Probleme mit seinem Gewissen, hungernde, arme Menschen aus der Dritten Welt zu fotografieren, denn nicht er sei für diese Menschen verantwortlich, nicht er habe sie arm gemacht, nicht er beute sie aus, gab mir den Rest.
  Andrerseits: der Mann hat Recht, er ist in der Tat nicht verantwortlich für das Leid auf dieser Welt. Und was sein Gewissen anlangt: nun ja, die vermeintliche Reinheit der Gesinnung war noch nie ein besonders taugliches Bild-Beurteilungs-Kriterium. Nicht etwa dass mich, was ich über einen Menschen weiss — oder zu wissen glaube — bei der Auseinandersetzung mit seinem Werk nicht beeinflusst. Es tut es, es tut es — je mehr ich zum Beispiel über Susan Sontags immenses Ego las, desto weniger konnte ich ihren Texten über Fotografie abgewinnen. Doch vor allem: Salgados Fotos liessen mich nicht los, gingen mir immer mal wieder durch den Sinn, beschäftigten mich. Dieses hier zum Beispiel, aus dem Band Migrations.
  Was sehe ich da? Was zeigt mir dieses Bild? Wo wurde es aufgenommen, zu welchem Zweck? Ich sehe: Eine junge, attraktive, geschminkte, gut angezogene Frau vor einer Absperrung, hinter der man Hände, die sich daran festhalten, und Gesichter ausmachen kann. Ich verstehe nicht, was mir meine Augen zeigen, kann es nicht einordnen. Ist das vielleicht ein Gefängnis? Was sieht die Frau, wo guckt sie hin? Die Bildlegende sagt: "Der Rodoviario de Tieté in Sao Paulo ist der wichtigste Busterminal für Neuankömmlinge aus den Provinzen. Die junge Frau, angezogen mit ihren besten Kleidern, ist gerade angekommen." Jetzt, wo ich dies weiss — da ich dem Mann, der das Bild gemacht und die Bildlegende formuliert hat, trauen will — sehe ich erst das Bild, das mir der Fotograf hat zeigen wollen; erst jetzt, wo ich weiss, was ich sehe, kann dieses Foto mir mehr erzählen als die berühmten tausend Worte es vermöchten. Was erzählt es mir also?
  Zuallererst tauchen in meinem Kopf Bilder auf von den Rodoviarios im Nordosten Brasiliens, die ich aus eigener Anschauung kenne. Warum es jetzt gerade diejenigen von Recife, Maceio, Natal und São Luis, die grösseren also, sind, vermag ich nicht zu sagen. Doch kaum notiere ich die Namen dieser Busterminals, tauchen vor meinem inneren Auge bereits weitere auf: Teresina, Parnaiba, Fortaleza undundund ... ein Film läuft ab, ohne Handlung, Bildeindrücke, unzusammenhängende, die sich in rasanter Folge ablösen, sind es vielmehr; ich verbinde mit ihnen vor allem ein Gefühl des Verlorenseins in der Welt.
  Es stört mich nicht, dass die junge Frau auf dem Foto namenlos ist; ich fühle mich zu ihr hingezogen, ihr verbunden in ihrer — wie ich mir vorstelle — Unsicherheit, ihrem Bemühen um Festigkeit und Würde, ihrem Bangen und Hoffen auf eine gute Zukunft — ich würde sie gerne beschützen können.
  "Ein Porträt, das es ablehnt, die abgebildete Person zu benennen, macht sich, wenn auch vielleicht unabsichtlich, zum Komplizen eines Prominentenkults, der ein unersättliches Verlangen nach Fotos der entgegengesetzten Art schürt: wer nur den Berühmtheiten ihre Namen lässt, degradiert alle anderen zu Fallbeispielen für ihren Beruf, ihre ethnische Zugehörigkeit, ihre Notlage," schreibt Susan Sontag in Das Leiden anderer betrachten. Mit Verlaub, das ist Quatsch. Nicht etwa, weil die junge Frau auf diesem Foto nicht (auch) ein Fallbeispiel wäre, doch weil sie nicht nur ein Fallbeispiel ist, sondern als Individuum und als Mensch erfahrbar scheint, jedenfalls für mich.
3 Die Gewalt und die Fotos. Je mehr ich Salgados Werk zu schätzen begann — insbesondere sein 12-Jahre-Projekt, an dem er gegenwärtig arbeitet und das zum Ziel hat, das Leben in noch ursprünglichen Gegenden der Welt, wie der namibischen Wüste oder den Galapagos Inseln, aufzuzeichnen — desto kritischer beurteilte ich (einige) von Sontags Ansichten. So sieht sie, zum Beispiel, einen der Wesenszüge der Fotografie in ihrer Aggressivität. "In Platos Höhle," einem der insgesamt sechs Essays — und nicht von vier, wie Peter Sager auf dem Buchrücken der Fischer-Taschenbuchausgabe von Über Fotografie zitiert wird — schreibt sie: "... haftet dem Akt des Fotografierens etwas Räuberisches an. Menschen fotografieren heisst ihnen Gewalt antun, indem man sie so sieht, wie sie selbst sich niemals sehen, indem man etwas von ihnen erfährt, was sie selbst niemals erfahren, es verwandelt Menschen in Objekte, die man symbolisch besitzen kann. Wie die Kamera eine Sublimierung des Gewehrs ist, so ist das Abfotografieren eines anderen ein sublimierter Mord — ein sanfter, einem traurigen und verängstigten Zeitalter angemessener Mord."
  Dass "dem Akt des Fotografierens etwas Räuberisches" anhaften mag, kann man durchaus nachvollziehen, vor allem, wenn man etwa an die Meute der Berufsfotografen an den Filmfestspielen in Cannes denkt. Doch dass man Menschen, wenn man sie fotografiert, Gewalt antut, scheint nicht nur weit hergeholt, sondern ist absurd, wie auch Frau Sontags Begründung — "... indem man sie so sieht, wie sie sich niemals sehen, indem man von ihnen etwas erfährt, was sie selber niemals erfahren." Zugegeben, das ist subtil beobachtet und ist zudem wahr, doch was hat das mit "Gewalt antun" zu tun? Und auch wenn man dem Urteil, dass Fotos "Menschen in Objekte, die man symbolisch besitzen kann" verwandeln durchaus zuzustimmen bereit ist, von "Gewalt antun" ist das dann doch noch recht weit entfernt.
  Nun gibt es zweifellos Menschen, die eine Kamera wie ein Gewehr handhaben, nicht umsonst ist der Ausdruck "Bilder schiessen" ein gebräuchlicher, wenn wohl auch wenig bedachter, doch dass "das Abfotografieren eines anderen ein sublimierter Mord — ein sanfter, einem traurigen und verängstigten Zeitalter angemessener Mord" sein soll, kann eigentlich nur jemand vollkommen Wirklichkeitsfremdem in den Sinn kommen. Es ist — wenig erstaunlich — dieselbe Wirklichkeitsfremdheit, die Frau Sontag Jahre später in ihrem Das Leiden anderer betrachten" als "phantasievolle Rhetorik ... einiger bekannter Franzosen," die da meinen, "der Krieg, wie alles andere, was real zu sein scheint, sei médiatique," charakterisiert.
4 Die Wirklichkeit von Fotos. Doch können Fotos eigentlich die Wirklichkeit abbilden? Natürlich nicht. Es wäre ja auch arg viel verlangt von zweidimensionalen Abbildungen, die weder riechen noch tönen. Und doch scheinen uns Fotos — im Gegensatz etwa zu Gemälden — eigenartig real, einerseits, weil das, was fotografiert wurde, im Moment der Aufnahme, so sich dem Kameraauge präsentiert, mithin existiert hat und andrerseits, weil, wenn ich, zum Beispiel, ein Foto meines vor vielen Jahren verstorbenen Vaters betrachte, eben kein Foto, sondern meinen Vater sehe.
  So eigenartig real erfahre ich mittlerweile auch Salgados Fotos. Sie zeigen mir eine Welt, die ich nicht kenne, Lebensformen, die mich staunen machen, eine Wirklichkeit, die mich mit Erfurcht erfüllt. Und obwohl ich darum weiss, dass ein Bild immer nur ein Bild sein kann — man denke an René Magrittes "Ceci n'est pas une pipe," wo er darauf hinweist, dass ein Bild einer Pfeife eben keine Pfeife sondern ein Bild einer Pfeife ist — kommt es mir vor, als sei dieses Bild (siehe nebenan) zweier Gemsböcke in der namibischen Wüste eben doch mehr als nur ein Bild, scheint mir, als sei ich jetzt selber da, wo der Auslöser betätigt wurde, denn genau so wie Fotos einem gelegentlich real vorkommen mögen, genau so kann die Realität einem manchmal wie eine Fotografie vorkommen.
   
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  Literatur
 
  • Adams, Robert (1981), Beauty in photography. Essays in defense of traditional values. Millertown, New York: Aperture.
  • Salgado, Sebastião (2000), Migrations. Humanity in transition. Millertown, New York: Aperture.
  • Sontag, Susan (1980), Über Fotografie. Frankfurt: Fischer Verlag.
  • Sontag, Susan (2003), Das Leiden anderer betrachten. Übersetzt aus dem Englischen von Reinhard Kaiser. München: Carl Hanser Verlag.
   
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